Süddeutsche Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten, 7.1.2004

Eine Form für den sozialen Kitt

„Ereignis-Management“: Geograph Benjamin David untersucht, wie sich Feste und Proteste im öffentlichen Raum besser koordinieren lassen

Von Philip Wolff

Ein Münchner Stadtteil versinkt im Chaos. Demonstrationszüge zehntausender Menschen kreuzen sich mitten in einem Straßenfest, dessen Besucher bereits mit Freiluftkinogängern um eine freie Asphaltfläche streiten. Ein Heer von Bladern muss am Rande des Tumultes stoppen, Straßenbahnen und Autos geraten in Rückstau. Nichts geht mehr, Ordnungskräfte fluchen. So könnte ein gewöhnlicher Frühsommerabend im Jahr 2050 aussehen – wenn man die Entwicklung der so genannten „organisierten Ereignisse im öffentlichen Raum“ in München weiterrechnet: Um nahezu das Hundertfache ist ihre Zahl in den vergangenen 30 Jahren gewachsen, weshalb sich die Stadtverwaltung gern ein Management-System zulegen würde, mit dessen Hilfe sie Zustände wie diese verhindern kann. Tagesaktuelle Ereignis-Stadtkarten könnten die zuständigen Beamten im Kreisverwaltungsreferat (KVR) dann abrufen, Wochen-, Monatsübersichten und Ballungsorte, um die Masse der Events räumlich und zeitlich zu entzerren. Eine Art Präventionssystem gegen das Chaos.

Wenn der Startschuss fällt

Die richtigen Zeitpunkte und Orte für Proteste oder Feste zu bestimmen, wird für die Stadt und für Veranstalter zunehmend schwierig. 2003 zum Beispiel galt als Rekordjahr der Demonstrationen in München – ein gutes Jahr also für den Geographiestudenten Benjamin David: Für seine Diplomarbeit waren Zeit und Ort perfekt gewählt. Der 27-Jährige hatte im vergangenen Frühjahr begonnen, am Seminar für Sozialwissenschaftliche Geographie der Münchner Universität (LMU) seine Abschlussarbeit über öffentliche Ereignisse in der Landeshauptstadt zu schreiben. Wochenlang grub er sich durch Datenbanken des KVR, recherchierte bei früheren und heutigen Fest-Organisatoren und systematisierte, was sich seit der Nachkriegszeit auf den Straßen Münchens alles abgespielt hatte. Dazu fertigte er Karten an und formulierte Trends, die den aktuellen Sorgen der Stadtverwaltung Nahrung gaben: „Es ist immer mehr los in München“, fasst Benjamin David das Fazit seiner Diplomarbeit zusammen. Nun soll seine Arbeit Grundlagen liefern für ein Münchner Modellvorhaben: das Anti-Chaos-System „Ereignis-Management“.

Das Planungsreferat zeigte Interesse an Davids Ergebnissen und beantragte bereits im Sommer Forschungsmittel beim Bundesbauministerium. Wäre das Projekt dort zurzeit nicht wegen Geldmangels aufgeschoben, hätte Benjamin David sich zum Jahresbeginn ein Büro einrichten und ein Firmenschild an die Tür schrauben können. Nun beginnt er 2004 damit, eine unbestimmte Zeit lang auf den Startschuss aus Berlin zu warten. „Der wird bestimmt noch kommen, irgendwann“, sagt er.

Gemeinsam mit Experten aus der Stadtplaner-Gruppe „Die Urbanauten“, dem Planungsbüro 504 und dem Sozialgeographischen Seminar der LMU will Benjamin David Strategien gegen ein künftiges Wirrwarr der Events in München entwerfen. Die ersten groben Züge stehen bereits: „Man muss sich einerseits zeitlich aus dem Weg gehen“, sagt er. „Im August etwa gibt es auf den Straßen zehn Prozent weniger Verkehr, und 90 Prozent der Bevölkerung sind in der Stadt.“ Warum also im Juni oder Juli Proteste, Feste oder Märkte beantragen und genehmigen? Juni und Juli sind Ballungsmonate. „Vor allem aber kann man sich räumlich besser in München verteilen als bisher“, sagt Benjamin David. Das Verkehrsaufkommen und die Umgehungsmöglichkeiten der Ludwigstraße etwa legten nahe, „sie häufiger zur Fest- und Flaniermeile auf Zeit“ zu machen. Damit entstünden neue Gelegenheiten für zentrale Events, mit denen die Fußgängerzonen-Achse der Innenstadt derzeit überladen sei. Aber auch Straßenzüge, etwa im Westend oder in Haidhausen, „in denen pro Stunde nur ein einziges Auto fährt“, eigneten sich als neue Orte für „Feste, Märkte und Proteste“ – so lautet im übrigen Davids Diplomarbeitstitel.

Im Terminplan hingegen gibt es nach Davids Analyse für die organisierten Ereignisse in München kaum Ausweichmöglichkeiten. Ein Jahr zählt demnach fast 6000 Veranstaltungstage, jeder Tag ist im Durchschnitt mehr als 16-fach belegt: Demos am Stachus, Infostände auf dem Marienplatz, dazwischen Straßenmusiker, ferner Flohmärkte, Nachbarschaftsfeste, die Summe ist schnell beisammen – und sie erhöht sich von Jahr zu Jahr mit wachsender Geschwindigkeit. Was sich also auch erhöhen müsste, wäre die Zahl der Veranstaltungsorte: „Wir könnten da zum Beispiel von Paris lernen“, schlägt Benjamin David vor.

Zum zweiten Mal hatte die rotgrüne Pariser Stadtregierung im vergangenen Sommer drei Kilometer Straße entlang des rechten Seine-Ufers für den Verkehr gesperrt und zum öffentlichen Veranstaltungsraum gemacht: zum Strand, Paris Plage, mit Künstlern und Buden. Chaos auf den Umgehungsstraßen gab es in der verkehrsberuhigten Ferienzeit nicht. „Oder wir lernen von Barcelona“, sagt Benjamin David. Dort war ihm während eines Auslandssemesters die Idee zum Diplomthema gekommen – als er sah, wie die Ramblas, Plätze, Straßen und Märkte lebten, ohne dass die zeitweise ausgesperrten Autofahrer sonderlich in Zeitnot gerieten. „Um das klarzustellen: Es wird in München nicht darum gehen, Straßenfeste gegen den Autoverkehr auszuspielen“, sagt er. „Es geht allein um das richtige Management.“ Während dafür jedoch in Barcelona eigens ein „Entwicklungsplan öffentlicher Raum“ existiere, „haben wir in München nur einen Verkehrsentwicklungsplan“. Feste, Märkte und Proteste aber forderten in München zusehends planerische Beachtung, „ein neues Bewusstsein“, sagt David.

„Wir Urbanauten“

Das Bewusstsein, das der angehende Stadtplaner einfordert, ließe sich auf die Formel bringen: Die Münchner sollten ihre Stadt mehr als Lebensraum begreifen denn als Straßensystem, das man zur anonymen Durchfahrt und Erledigung des Alltags benutzt. „Wir Urbanauten haben zum Beispiel im vergangenen Herbst die ,Fête de la musique‘ in der Hohenzollernstraße veranstaltet. Dabei ging es darum, dass Anwohner mit ihren Musikinstrumenten auf die Straße gehen und zusammen spielen“, berichtet Benjamin David.

Solche Ideen entsprechen nicht ganz dem Trend des öffentlichen Veranstaltungswesens, den David in seiner Diplomarbeit dokumentiert hat. Demnach haben vor allem Massenveranstaltungen Konjunktur: Waren die ersten Straßenfeste in München Anfang der 70er Jahre noch kleine, politische Nachbarschaftstreffen gegen Luxussanierung oder die autogerechte Stadt, gibt es heute rund 50-mal so viele Zusammenkünfte: 150 zum Großteil professionell aufgezogene Feste mit bis zu vielen tausend Gästen. An Masse und Professionalität zugenommen hätten ebenso die Wochenmärkte, sagt David, die in den späten 60er Jahren in Stadtrandvierteln eingeführt wurden. Sie wuchsen bis heute auf das 40-Fache. „In den Neunzigerjahren übernahmen dann Eventagenturen viele Veranstaltungen. Dazu kamen neue Events für die Massengesellschaft: die Bladenight, das Kino Open Air . . .“ Doch David will keinen eigenen Trend dagegen setzen. „Alle diese Ereignisse“, sagt er, „sind der soziale Kitt, der unsere Stadt zusammenhält.“ Vorausgesetzt, sie ufern nicht ins Chaos aus. Und werden beizeiten gemanagt. Spätestens im Sommer 2050.

Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Artikels auf www.urbanauten.de.