Staat und Stadt als selbstvergessene Geschichtenerzähler?
Pamphlet #17, nach dem debatten_gelage am 18.10.2004  
 

 

Orte der Erinnerung: das geschichtliche Bewusstsein der Öffentlichkeit +++ Privatinitiativen des Erinnerns: Provokationen an einen konstruktivistischen Geschichtenerzähler? +++ Der Fokus auf dem Widerstand: lässt uns die Stadt die NS-Zeit vergessen? +++ Der öffentliche Raum als Kulisse - die Stadt als Manipulator der Öffentlichkeit +++ Stolpersteine in München - Stolpersteine für die Stadtherren? +++ Die "Hauptstadt der Unbewegung": Revisionismus oder Plädoyer für Normalität

 

"Bau und Nutzung, Zerstörung und Veränderung von Denkmälern und Gedenkstätten sind demnach ein wichtiger Bereich symbolischer Politik und der durch sie beeinflussten Gedächtniskultur. Ihre Träger und Akteure wollen dabei ein zeit- und gruppenspezifisches oder gruppenübergreifendes Geschichtsbild festschreiben und den Erinnerungsdiskurs entweder zentralisieren oder umgekehrt gerade lokalhistorisch fixieren."

Peter Reichel 1995: Steine des Anstoßes. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen. In: François, E. et al. (Hrsg.), Nation und Emotion,  S.169

 

Der öffentliche Raum kann als Bühne verstanden werden, auf der politische Ideen räumlich kristallisiert werden. Dies wird besonders deutlich im Bereich der Erinnerungs- und Geschichtspolitik. Denn Monumente, Denkmäler, Plätze und vieles mehr sind nicht nur materielle Artefakte, sondern transportieren auch immer Ideen ihrer Errichter mit. Insofern wird im öffentlichen Raum bewusst "Geschichte geschrieben". Es stellt sich jedoch die Frage, wer an dieser "Geschichtsschreibung" teilhaben darf?

In München sorgten in letzter Zeit unterschiedliche Erinnerungsprojekte für Schlagzeilen. Die "Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig, die vor den Häusern deportierter Juden verlegt wurden, oder der "Brandfleck" von Wolfram Kastner auf dem Königsplatz zur Erinnerung der Bücherverbrennung, haben gezeigt, dass Stadtobere - hier als Vertreter eines abstrakten Staates verstanden - der Inflationierung der Erinnerungsstätten (C. Ude) entgegen wirken wollen. Da Stadt München und Freistaat Bayern jedoch an eigenen Erinnerungsstätten arbeiten (so z.B. am NS-Dokumentationszentrum) stellt sich die Frage, warum privaten Initiativen Stolpersteine in den Weg gelegt werden? Strebt der Staat nach einem Erinnerungsmonopol?

Interessant erschient die Beobachtung, dass die Erinnerungslandschaft für die NS-Herrschaft in München zum großen Teil auf Gedenkstätten für Widerstandskämpfer beruht. Welche Wirkungen hat diese Herausstellung?

Soll den wenigen Leuchttürmen der NS-Zeit gedacht werden, um die Schrecken endlich selbst "vergessen" zu dürfen? Sollen die Erinnerungsorte des Widerstandes uns zeigen, dass diese Möglichkeit der Widersetzung und des Freiheitskampfes bestand - nach dem Motto: Möget Ihr es Ihnen nach machen?

 

Thesen aus der Debatte

1. Der Staat: revisionistischer Geschichtsmonopolist oder Ermöglicher bundesdeutscher Normalität?

Ist dem Staat tatsächlich Bösartigkeit zu unterstellen, uns das allgegenwärtige Gedenken an die Schrecken des Nationalsozialismus zu ersparen? Oder vollzieht er nun heimlich oder selbstbewusst die lange geforderte "Rückkehr zur Normalität" (F.-J. Strauß), um den ewigen Schuldkomplex der Deutschen zu lindern?

Bösartigkeit ist dem Staat, den Stadtoberen sicherlich nicht zu unterstellen. Von Revisionismusverdacht ganz zu schweigen. Politiker und sonstige Entscheidungsträger haben Deutschlands schwere Schuld stets eingestanden - beinahe verstaatlicht. Dennoch geht es nicht um die Normalisierung des deutschen Selbstbildes. Dies setzt schließlich voraus, dass das deutsche Selbstbild zuvor von Schuldkomplexen geradezu geplagt war.

Die These: Die Deutschen litten nicht unter Schuldkomplexen, deshalb kann es auch nicht Absicht sein, die Deutschen von ihrer Täterrolle zu erlösen.

Denn ist es nicht eher so, dass die Deutschen hinter einem verstaatlichten Schuldbekenntnis in eine private Opferrolle geschlüpft sind?

In den Jahren nach 1945 konnte man überall hören, dass man Opfer des Systems, der Nazi-Herrschaft war. Dies war die emotionale Empfindung des kleinen Mannes, wurde jedoch z.B. auch selbstbewusst in den Nürnberger Nachfolgeprozessen von den Verantwortlichen der IG Farben vertreten.

Seit der Wiedervereinigung wurde diese Opferrolle durch eine andere verdrängt - ohne behaupten zu wollen, diese wäre zuvor nicht thematisiert worden: Wir Deutschen waren Opfer von Flächenbombardements und Vertreibung. Dabei waren dies nicht (nur) Themen der neuen Rechten: Auch Günter Grass als linker Staatsintelektueller hat sich dem Thema im Krebsgang angenähert.

Doch damit scheint die Frage, welche Interessen der Staat verfolgt, weiter offen!

 

2. Der Staat als Manipulator - der Normalfall?

Es stellt sich die Frage, ob es nicht ganz normal ist, dass der Staat Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes prägt. Und warum sollten wir so stark an unsere negativen Seiten der Geschichte erinnern, wenn andere es gar nicht tun?

Die Außerordentlichkeit der deutschen Vergangenheit sollte schon zu besonderer Sensibilität mahnen. Doch kritisch ist die allgemein normative Perspektive erst im zweiten Schritt: Wie kann der Staat optimal Geschichte schreiben?

Zuerst sind vielmehr die positiven, real geschehenen, Konfrontationen problematisch: Was ist von einem Staat zu halten, der Erinnern predigt, es aber nicht zulässt - noch dazu wenn die Intervention sich auf den Bereich der Schulbildung und Schülerinitiative bezieht, wie bei den Stolpersteinen?

Die These: Der Staat will verklären anstatt aufklären.

 

3. Der Staat - Bewahrer eines ausgeglichenen öffentlichen Raumes?

Werden private Erinnerungsmanifestationen zugelassen, so könnten Tür und Tor für Gedankengut geöffnet werden, das die demokratische Gesellschaft im Öffentlichen Raum nicht sehen will. Falls Stolpersteine erlaubt werden, müssen dann auch Mahnwachen von Neonazis zugelassen werden?

Diese Frage betrifft die Konstitution der demokratischen Gesellschaft. Öffentliche Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden in der Bundesrepublik - nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes - als extrem wichtige Güter geschützt. Das ist sehr zu begrüßen. Zum prinzipiellen Schutz der Grundrechte - die nicht selektiv gebraucht werden dürfen - kommt die Überlegung, dass rechtes Gedankengut durch Verbote nicht zu konterkarieren ist. Es gibt also von dieser Seite gar keine Beschneidungsmöglichkeit der Exekutive für Versammlungen und ähnlichem. Nun handelt es sich bei Gedenksteinen und Mahnmalen jedoch um permanente Zeichen. In der Debatte wurde deshalb gefordert, Staat und Stadt sollten für politisch korrekte und angemessene Symbollandschaften im öffentlichen Raum sorgen. Diese Einstellung folgt der Organtheorie, mit der Platon und Aristoteles den Staat als "guten Lenker" definieren. Hier spätestens wird deutlich, dass die Frage des öffentlichen Erinnerns eine Frage der Demokratie- und Staatsdefinition ist. Denn folgt man eher den Staatsdefinitionen in der sophistischen Tradition der Vertragstheorie, so ist der Staat ein Zweckbündnis und die Regierungen sollen den Willen des Volkes vertreten.

Das Problem liegt nun darin, dass der organtheoretische Ansatz Ansatzpunkte für Willkür bietet. Der Staat sollte vielmehr als "Ermöglicher" von Privatinitiativen auftreten und diese einem demokratischen Prozess zuführen! Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass für jedes Mahnmal ein Volksbegehren durchzuführen sei. Es existieren auch andere Instrumente, wie etwa Bürgersprechstunden - die sich besonders bei der dezentralen Problematik der kleinen Erinnerungsstätten anbieten. Falls die Konzeption der demokratischen Output-Legitimation akzeptiert ist, könnten auch Expertengremien zu einer Lösung beitragen.

Die These: Staat und Stadt sollen als "Ermöglicher" auftreten und Projekte einem demokratischen Entscheidungsprozess zuführen. Willkür im Entscheidungsprozess ist nicht hinzunehmen, da Machtworte und Unterdrückung von Gegenmeinungen den Verdacht der persönlichen Interessenverfolgung aufwerfen.

 

4. Der provozierende Staat

Dient ein Verbot der genannten Privatinitiativen nicht eher einer Schaffung der Öffentlichkeit? Immerhin rollte eine Lawine von Leserbriefen über die regionale Zeitungslandschaft!

Dazu sollen zwei Punkte angesprochen werden:

Zum ersten wollen wir den Fokus auf den öffentlichen Raum legen, insofern wäre ein öffentlich zugänglicher Stolperstein als Erinnerungsmarke auch ein alltäglicher Denkanstoß - die Themenbesetzung in der medialen Öffentlichkeit hingegen ist bereits abgeklungen.

Zum zweiten ist eine Schaffung von Öffentlichkeit immer zu begrüßen. Eine Provokation des Staates wäre als "Denkanstoß" sogar überlegenswert.

Doch hier trifft dies gar nicht zu, denn der Denkanstoß war ja bereits initiativ gegeben worden - es handelt sich also gar nicht um ein Thema, bei dem der Staat provozieren muss, damit sich überhaupt jemand damit auseinander setzt. 

Darüber hinaus verlangte eine solche Provokation natürlich auch, dass die anschließende Debatte mit offenem Ausgang geführt wird. Eine Initialzündung mit vorgegebenem Ergebnis ist sinnlos und kontraproduktiv.

Die These: Der Staat will nicht das Erinnern provozieren, sondern lenken.

Alexander Danzer