Zeiträume
Pamphlet #16, nach dem debatten_gelage am 20.10.2003
 

 

+++ Die 24 h-Stadt – die Stadt, die niemals schläft +++ Timescapes: neue Funktionstrennung durch Zeitzonen? +++ Nonstop-Stadt Begegnungsstop? +++ Nachtarbeiter, die Stadt und der Tod +++ Beschleunigung: Investoren am Puls der Zeit, Planer am Tropf der Investoren? +++ Zeitloser öffentlicher Raum oder Permanenz als Anker? +++

 

“Die Geschwindigkeit (der Automobile) veränderte die Ordnung der Dinge, brachte die Bilder zum Fließen. Die neue, höhere Geschwindigkeit in den Straßen forderte eine andere Stadt (...). Und die Bilder und Imaginationen und die neuen Zeit- und Raumwahrnehmungen drangen allmählich in die Mentalitäten der Menschen ein, wenn auch nicht in genormter Gleichzeitigkeit.“

 

Sid Auffarth 2002, Die Geschwindigkeit und die Stadt. Der Aufbruch in die Moderne. In: Klaus Selle (Hrsg.): Was ist los mit den öffentlichen Räumen? Analysen, Positionen, Konzepte. Dortmund,  S. 103/105

 

Die 24 h-Stadt
Die Stadt, die niemals schläft...

Metropolen befinden sich auf dem Weg zur Nonstop-Stadt, zur Nonstop-Gesellschaft. Den modernen Mensch hat eine besondere Obsession erfasst: er will seine knapp bemessene und unaufhörlich ablaufende Lebenszeit perfekt ausnutzen, deshalb verdichtet er seine Zeit, macht mehr aus seiner Zeit – oder weniger... Und er dehnt sie aus, erobert und ökonomisiert bisher kaum genutzte Zeit-Räume: die Nacht und das Wochenende.

Er will erleben, will konsumieren – und sich dabei nicht von Ladenschlusszeiten, Sperrstunden oder der letzten U-Bahn begrenzt sehen.

Nicht mehr nur der Schichtarbeiter bei BMW arbeitet nachts und am Wochenende, auch der Softwareentwickler kann sich traditionelle Ruhephasen im internationalen Wettbewerb nicht mehr leisten. Nacht- und Wochenendarbeit zieht den Stand-by-Dienst von Polizei, Feuerwehr, Krankenhaus nach sich, Bereitschafts- und Reparaturdienste, 24h-Shops, 24h-Banking, Lieferpizza, Funk, Fernsehen, Internet, Verkehr(stakt) rund um die Uhr machen nun (mehr) Sinn, werden notwendig. In Börsen und Banken wird erstmals Schichtbetrieb eingeführt. Noch betrifft die Ausdehnung des Non-Stop-Betriebs in die Nacht und das komplette Wochenende hinein nur eine Minderheit, doch diese Minderheit wird größer. New York, Tokio oder London sind bereits kontinuierlich aktiv.

 

...verändert Raum: Zurück zur Funktionstrennung?

Diese Entwicklung von Zeitverdichtung und Zeitausdehnung wird im Raum sichtbar, der Raum bildet zeitliche Strukturen der Gesellschaft ab – Timescapes: Stadt spaltet sich in verschiedene Zeitzonen (24h-Gebiete in Geschäftsvierteln der New Economy versus Schlafstadtteile, Verkehrsknotenpunkte versus Ruheinseln etc.) auf, denn zwischen den Funktionen Wohnen und 24h-Arbeiten entstehen Konflikte (Lärm etc.), die zu funktionaler Entmischung statt Nutzungsmischung führen (und uns schaudernd an die Charta von Athen denken lassen...).

 

...fragmentiert Gesellschaft? 

Kollektive Rhythmen (sonntäglicher Kirchengang, Signal der Werkssirenen) sind verloren gegangen, Tagesrhythmen werden individualisiert. Gemeinsame Zeiten in Partnerschaft, Familie usw. werden knapper, Zeit wird desynchronisiert. Sozialer Zusammenhalt jedoch setzt gemeinsame Zeiten und Kalkulierbarkeit von Zeiten voraus. So haben die entstrukturierte und enttraditionalisierte Zeit, die veränderten Bewegungsmuster in Raum und Zeit nicht nur das Fehlen von Erholungs(zeit)räume für Mensch und Natur zur Folge, sondern auch der Begegnungs(zeit)raum wird rarer. Letztlich fragmentiert sich Gesellschaft somit auch zeitlich.

 

...macht krank: Nachtarbeiter, die Stadt und der Tod

Nachtarbeit führt nach Schlaf- und Unfallforschung zu vermehrten Unfällen (Verkehr, Fabrik, Atomkraftwerke) aufgrund stark verminderter Reaktionsfähigkeit und Aufmerksamkeit (Biorhythmus) und macht krank (vgl. Matthias Eberling u. Dietrich Henckel 2002: Alles zu jeder Zeit? Die Städte auf dem Weg in die kontinuierliche Aktivität. difu-Beiträge, Band 36).

 

Thesen aus der Debatte

1.   Beschleunigung – Investoren am Puls der Zeit, Planer am Tropf der Investoren?

Planer verlieren ihr Monopol auf die Produktion von öffentlichen Räumen, zunehmend gestalten private Investoren Raum. Sie reagieren schneller auf beschleunigten gesellschaftlichen Wandel und Bedürfnisse/ sind näher am Zeitgeist. Ihr Interesse gilt dem Profit im/durch ÖR, nicht den gesellschaftlichen Funktionen von ÖR. Stadt(entwicklungs)planung dagegen ist bemüht, öffentliche Räume zu planen, die gesellschaftliche Funktionen übernehmen können (Begegnungsraum, soziale Vielfalt und Sozialisation etc.) und hinkt den sich beschleunigt verändernden Rahmenbedingungen strukturell hinterher. Die Planung sieht sich aus Finanznot sogar gezwungen, im Sinne der Investoren zu vereinfachen, zu verkürzen und zu deregulieren – aus Angst vor der Investitionsverweigerung der Privatseite. So wird die Erarbeitung von Entwicklungs- und Rahmenkonzepten, die langfristig tragen und wirkliche Abwägung aller Interessen garantieren können, verhindert.

 

2.   „Der zeit-lose ÖR muss planbar sein!“

Wann ist ein ÖR zeitlos? Wenn Bebauung (Bsp. Mobiles Glasquadrat), Möblierung, Bespielung flexibel sind, es Raum für Veränderungen gibt? Flexible Büros (verschiebbare Gipswände etc.) – Vorbild oder Antibild für den ÖR?

> Forderung nach offener und flexibler Architektur

Beispiel:

Verschiebbare Elemente statt permanenter Möblierung od. Mix aus beidem (z.B. Bänke, die in Sonne oder Schatten gerückt werden können = Raum für Tageszeiten und Jahreszeiten (veränderter Sonnenstand) offen lassen/optimalere Nutzung.

oder

der Frei-Raum, leerer Raum, der offen ist wie ein Gefäß und extrem flexibel als optimaler

zeitloser Raum (im Gegensatz zu definiertem Raum, der Nutzungen und Funktionen weitgehend vorgibt)? Bedeutet die Optionalität der Zeit eine notwendige Offenheit des Raumes?

Antithese: „Wir brauchen Permanenz des ÖR als Anker in beschleunigter Gesellschaft!“

Im zeitlosen ÖR geht mit jeder Veränderung Geschichte verloren und damit Ich-Verortung und Identifikation seiner Nutzer (und Planer). Permanenz und gesetzliche Verordnungen verhindern ständige Debatte über Veränderungsmöglichkeiten im ÖR – politisch gewollt?

Vera Neuhäuser