Diskurs oder Kochkurs?
Pamphlet #6, nach dem debatten_gelage am 10.3.2003
 

 

+++ „Zwischen der Suppe und dem Mund kann sich vieles ereignen“[1] +++ öffentlicher Raum als Suppe +++ Schüssel gleich Stadtraum +++ Einlage gleich Privatkapsel +++ Bouillon gleich innerer Zusammenhalt +++

 

Ich habe hier nun die Freude, von einem der philosophischeren Kochkurse im ak_ör zu berichten. Um mit dem Ergebnis zu beginnen – unter Umständen haben wir das ultimative Bild zur Beschreibung des öffentlichen Raums entdeckt. Und vielleicht sind mir damit dem schon vor einigen Sitzungen formulierten Zöller‘schen Wunsch nach einer Definition des „öffentlichen Raums“ oder der „Öffentlichkeit“ näher gekommen. Denn die Komplexität des Themas erfordert offensichtlich sehr einfache Bilder – sich da eine simple Bouillon aufzukochen ist da nicht das schlechteste.

Wer andern eine Suppe einbrockt, muss sie auch auslöffeln!

Zu viele Köche verderben hier keineswegs den Brei. Nach einigen diskursiven Umwegen der humorvollen Art („ist das Stückchen Karotte jetzt ein Gespräch, ein Mensch, eine Privatkapsel, eine gesellschaftliche Gruppe oder eine Umgangsform?“) gelang es uns das Bild hinreichend klar festzulegen:

Schüssel:

ein Bild für die gebaute Stadt, also quasi der Rahmen der Suppe oder auch der Rahmen der Öffentlichkeit und ihrer Diskurse in der Stadt. Weitere Interpretationen: steingewordene Geschichte, bzw. steingewordene Diskurse der Vergangenheit. Wenn wir auf die Theater - Analogie „öffentlicher Raum als Bühne der Stadtgesellschaft“ zurückgreifen also das Bühnenbild vor dem sich die zahlreichen Alltagsereignisse abspielen. Hiermit löste sich auch die Frage in Wohlgefallen auf, ob die gebaute Stadt oder die sich ereignenden gesellschaftlichen Phänomene in derselben der entscheidendere Zugang zum Verständnis des öffentlichen Raums, bzw. der Öffentlichkeit ist. Beides ist da und beeinflußt sich gegenseitig.

Suppe:

Bei einer eingehenden Betrachtung der durchschnittlichen mitteleuropäischen Suppe (hierzu griff ich auf die freundliche Unterstützung der Forscherkollegen von www.suppeninstitut.de zurück) bestätigte sich dann auch unsere Überlegung vom Montagabend, dass man die Suppe analytisch in zwei grundsätzliche Bestandteile zerlegen kann (also „Rückwärtskochen“ um beim Küchenbild zu bleiben - die dekonstruktivistische zeitliche rückwärtsgewandte Umkehr des Kochprozesses). Auf der obersten logischen Ebene stellten wir dabei in einer immensen intellektuellen Anstrengung fest, aus was sich die Suppe eigentlich zusammensetzt: aus vielen verschiedenen einzelnen festen Stückchen und aus der alles verbindenden flüssigen Brühe oder auch Bouillon. Ob das auch das ist was die Suppe ausmacht? Dazu später mehr?

Stückchen:

Die Stückchen in der Suppe taugen als Bild für die vielen einzelnen Akteure oder auch für einzelne Gruppen (je nach Maßstab quasi) im öffentlichen Raum. Sie sind zwar elementare Zutat der Suppe. Ohne die alles verbindende Bouillon wären Sie allerdings wenig suppenhaft.

Bouillon:

Das, was die Suppe in ihrem Inneren zusammenhält. Eine Suppe ohne Brühe oder Bouillon wäre wohl kaum noch als Suppe zu bezeichnen. Genauso wie der öffentliche Raum ja wohl auf jeden Fall irgendeine Form von Interaktion zwischen den ganzen „Privatkapseln“ braucht und ermöglicht. Hier konzentriert sich die Diskussion: Was ist es eigentlich was die ganzen einzelnen Teile im öffentlichen Raum zusammenhält. Wofür steht in unserem Bild also die Bouillon? Während ja die Stückchen recht gut zu fassen und zu beschreiben sind ist es bei der Bouillon aufgrund ihres flüssigen Naturells weit schwieriger.

Jetzt haben wir den Salat!

Zunächst: Wodurch entsteht diese Schwierigkeit in der Beschreibung der Bouillon – also dem was die ganzen einzelnen Partikel verbindet? Wir waren uns schnell einig, dass hier der große Haken liegt – wir reden hier über schwer greifbare, abstrakte Dinge wie: Aufeinanderprallen von Gegensätzen, Inszenierung, (Re-)Präsentation, Integration, Exklusion, Interaktion, Begegnung & Kommunikation, Sozialisierung, Gemeinsinn/Kitt der Gesellschaft – um nur einige der gefallen Beispiele zu nennen. Und nicht nur reden wir über abstrakte Dinge, sonder wir wissen nicht mal genau was wir damit meinen, wenn wir diese Begriffe in den Mund nehmen, auf welcher logischen Ebene wir miteinander kommunizieren: Sind die oben genannten Beispiel Funktionen des öffentlichen Raums, oder Nutzungen oder Qualitäten? Sind das Ideale oder einfach nur Aufgaben des öffentlichen Raums? Handelt es sich um Realitätsbeschreibungen, Trugbilder oder Wunschvorstellungen?

Und dann: Wofür steht also in unserem Bild die Bouillon? Grundsätzlich war unser Gefühl, dass all diese einzelnen Bausteine dazugehören? Also sowohl die Themen, als auch die Art wir über sie gesprochen wird. Ich fühle mich dabei auch ziemlich stark an den Begriff Diskurs erinnert. Aber weiter sind wir hier nicht wirklich gekommen. Vielleicht eine Idee für unsere nächste Sitzung.

Und dann stellt sich noch die Frage: Wofür stehen dann das „Salz in der Suppe“ und dementsprechend das „Haar in der Suppe“, wofür der Löffel, der Herd, der Tisch, der Koch und sein Kochlöffel, wofür das Rezept, der Geschmack, die Erwartungshaltung, die verschiedenen Konzepte von Suppe...?

Das Bild wäre noch ganz schön ausbaufähig! Aber ich will zunächst versuchen mit einem Beispiel, das Bild auf seine Tauglichkeit zu testen.

Klar wir Kloßbrühe?
Ein kleiner Thesentest in Form einer Bild-Analyse

Wenn man schon so wilde Thesen aufstellt – bietet es sich natürlich auch an, sie noch zu überprüfen. Dazu habe ich mir zwei der klassischen Photographien zum Thema öffentlicher Raum ausgesucht, an dem sich unsere Debatte vom letzten Mal vielleicht illustrieren lässt: „American Girl in Italy“ von Ruth Orking und „Hotel de Ville“ von Robert Doisneau. Die Frage also: Was hat das Bild der Suppe mit dem Bild des öffentlichen Raums zu tun?

So hatten wir ja gesagt es gibt verschiedene Einzelbestandteile („Stückchen“, sonst auch gerne „Privatkapsel“ genannt) im öffentlichen Raum: auf unseren beiden Bildern also die verschiedenen Personen oder auf dem unteren auch 2 PKW älterer Bauart. Außerdem gibt es so etwas wie den Rahmen der Handlung (a.k.a. „Schüssel“) – also die gebaute Stadt: hier in Form einer Häuserecke, vor dem Café, an der Straße, vor bedeutenden Gebäuden, auf dem Bürgersteig.

Dies sind die Dinge die wir auf den ersten Blick sehen, genauso wie wir beim Betrachten der Suppentasse rechts unten auch zunächst die Tasse und dann die vielen Stückchen sehen, die an der Oberfläche schwimmen. Allerdings der große Charme der photographierten Situation entsteht auf einer anderen Ebene: durch die starrenden Blicke der Männer und die Pfiffe, die man sich geradezu vorstellen kann, durch die Bewegung der Anderen hinter dem küssenden Paar (Space of Flows?), durch die fast schon nachvollziehbare abweisende Geste des „american girl“, durch die konfliktgeladene Konnotation „American girl in Italy“, durch das 50er Flair, durch die theatralische Aufstellung der Männer um den Weg der schönen Frau, durch deren Blickrichtungen, die neckische Kopfhaltung des jungen Herren auf der Vespa, durch die Starrheit des Aktentaschenträgers im Knutschphoto oder die fast schon voyeuristische Position des Dandys links unten in der Ecke oder den zugewandten Rücken des Herrn mit dem schwarzen Hut, ...

Hier reden wir also über die Bouillon! Und wir stellen fest das diese Dinge nur greifbar sind, weil mit dem Photo ein Stillstand der sonst bewegten Situation künstlich hergestellt wird. Die Zeit wird für uns angehalten – und erst dann können wir uns all dieser verknüpfenden, metaphysischen Dinge bewusst werden (Interaktion, Aufeinanderprallen, Gegensätze, etc.). Und dann kommen wir nämlich auch zu der 3. Ebene. Handelt es sich hierbei um Funktionen des öffentlichen Raums, Nutzungen, Ideale davon, Trugbilder, Wunschvorstellungen...

Kein Wunder also, dass sich unsere Debatten schwierig gestalten. Denn wir wissen noch nicht einmal worüber wir reden, geschweige denn, ob wir, wenn wir es versuchen, vom gleichen reden (können). Sprich, es gibt noch viel auszudiskutieren!

Hier noch, was Robert Doisneau dazu zu sagen hat:

"You've got to struggle against the pollution of intelligence in order to become an animal with very sharp instincts - a sort of intuitive medium - so that to photograph becomes a magical act, and slowly other more suggestive images begin to appear behind the visible image, for which the photographer cannot be held responsible."

 

Vielleicht auch eine Anregung für unsere weitere Diskussion. Ich bin jetzt erst einmal mit meinem Küchenlatein am Ende. Im Anschluss noch von den Kollegen von www.suppeninstitut.de eine kleine Kulturgeschichte der Suppe, die ich Euch nicht vorenthalten will.

Benjamin David

 
[1] Altdeutsches Sprichwort
[2] Von denen freundlicherweise auch mehr oder weniger freiwillig die beiden Suppenbilder stammen
 
   
   
   
   
   
   
     
     
     
     
   
   

Anhang                                                                     

Kleine Kulturgeschichte der Suppe
www.suppeninstitut.de

Speisen sind Teil der Kultur und haben ihre eigene Geschichte. Suppe ist ein Urelement der Küche. Wenn der Braten der Vater ist, dann ist die Suppe die Mutter der Kochkunst. Von ihr abgeleitet sind alle Saucen, Eintöpfe, Brühen, Breie - kurz alles in Wasser, Milch und Wein Gekochte. Die erste Suppe, die "Ursuppe", garten die Steinzeit-Menschen mit glühenden Steinen in wasserfest gemachten Säcken oder Gefäßen. Uralt ist auch das Wort selbst: "Supen" bezeichnet das Saufen, Saugen, Schlürfen und kommt als Hauptwort in allen europäischen Sprachen vor. Auch die romanischen Sprachen haben es aus den germanischen Sprachen entlehnt, "Sopa" im Spanischen, Portugiesischen und Provenzalischen heißt "Soupe" im Französischen oder "Zuppa" in Italien; "Soep" und "Soup" versteht jeder. In ihrer archaischen Frühzeit existierte Suppe zuerst als warme Morgensuppe. Sie wurde als Getreideschrotbrei zubereitet, von dem sich Römer, Ritter, Patrizier, Bauern über Jahrtausende ernährten und der in der Hafergrütze oder dem Porridge bis heute fortlebt.

Ein anderes lebendiges Fossil der Küchengeschichte begegnet uns im "Pot au feu", dem ewig siedenden Kochtopf, in dem sich alles sammelt, was der Tag und das Jahr bringt: Gemüse, Fleisch, Wurzelwerk, das jedesmal eine andere Nuance annimmt, jedoch immer das gleiche bleibt und sich stets erneuert. Für jeden ist immer etwas da. Die Suppe hat Urtugenden: Sie wartet, sie erneuert sich, sie wird bei jedem Aufkochen besser, sie kann sich wandeln.

Suppe ist ein Essen für viele: Die Technologie des Kochtopfes entwickelt im Mittelalter den 100 Liter-Topf aus Eisenblech. Das Geheimnis jeder guten Suppe wird dadurch bedingt, dass sie ganz langsam lange gart, die Zutaten allmählich zu einem Ganzen amalgieren und aus der Alchemie einfacher Zutaten etwas vollkommen Neues erwächst.  

 

Suppe als hoffähige Speise

Die "Spanische Suppe" nahm hier ihren Anfang: Zu Beginn Festessen kastilischer Bauern, dann Familienessen der Bourbonen und Habsburger. Mit ihr nahm der soziale Aufstieg der Suppe seinen Anfang und vollendete sich im Prunk und Glanz höfischer Prachtentfaltung. Die "Olla podrida", auch zärtlich "Olla" oder "Oille" genannt, war ein opulentes Mischgericht von Schlachtfleisch, zumindest Rind, Lamm, Schinken gehörten hinein, vielerlei Geflügel, allerlei Gemüse, das auf den Punkt zusammen gegart wurde. Für weniger als 30 Personen machte das Ganze wenig Sinn. Wildgeflügel, Kichererbsen und spanische Chorizos gaben der Suppe Charakter. Anfangs kamen die Zutaten auf Platten garniert auf den Tisch, und die Brühe wurde vorab gegeben. Um 1900 wurde nur noch die klarifizierte Bouillon serviert. Dieses "Pot Pourri" bildete die obligate Mitte auf dem Tisch der barocken Herrscher. Die Olla machte die Suppe hoffähig und brachte auch alle anderen Rezepturen auf die Tische der Herren. Terrinen waren ursprünglich, wie das Wort vermeldet, einfachste irdene Suppenschüsseln. Jetzt wurden sie aus Gold und Silber kunstvoll von den vornehmsten Pariser Bildhauern und Handwerkern angefertigt und kosteten ein Vermögen. Nie kamen Suppen zu größeren Ehren, denn "les Bourbons aiment de la soup" und alle, die etwas auf sich hielten, taten es den französischen Königen gleich. Nur noch die Stör- und Sterletsuppe der russischen Bojaren konnte es an Prestige mit der Olla aufnehmen. Beide sind untergegangen und vergessen. Sie leben nur noch in den Worten und dem kostbaren zugehörigen Gerät, das die Museen verwahren oder das Sammler mit Millionen-Beträgen bezahlen.

 

Suppe als Wunder der Ökonomie

Den barocken Festfreuden folgten die vernünftigen, strengen Prinzipien der Aufklärung. Hier erfuhr Suppe ihre Neuinterpretation. Sie wurde zur Vernunft gebracht, und was ist vernünftiger als Suppe, ein Wunder der Ökonomie, Mittel des "social engineering"! Dem bayerischen Grafen Rumford, als britischer Untertan Benjamin Thompson (1753 - 1814) in Massachusetts geboren, gelang der große Schlag: Nachdem er zuerst die Wärme - Theorie von den bewegten Molekülen formuliert (1798) und konsequent den geschlossenen Herd erfunden hatte, ging er daran, die Massen zu speisen. Nach kalorischen, ergonomischen, physiologischen Berechnungen konnte dies nur eine minimalische Gemüse-Graupensuppe sein, die fortan in den Armenküchen, Suppenanstalten und Feldküchen Europas als "Rumfordsuppe" von der Obrigkeit verabfolgt wurde. Zwischen sozialer Wohltat und kulinarischem Zynismus verschwand so jeder Unterschied.

Der große deutsche Kunsthistoriker und Gastrosoph Carl Friedrich von Rumohr (1785 - 1843) kennt die Rumfordsuppe, zieht ihr aber seine vereinfachte "Olla podrida" vor, um sich von der fetten, völlig überwürzten Küche seiner Zeitgenossen zu befreien und davon zu heilen. Dass Suppe gesund sein kann, war eine Grunderkenntnis der Aufklärung, und der Maler Jean-Baptiste Chardin (1699 - 1749) verherrlichte in seinem Küchen - Stilleben die Elemente einer guten Fleisch-Gemüsebrühe.

 

Von der Suppe zum Restaurant

Eine treffliche Bouillon war auch die "Ursuppe" der Restaurants. "Restaurant" hieß ursprünglich ein Consommé, das in Paris kurz vor der 1789er Revolution als eine die Kräfte wieder herstellende Gesundheitssuppe verschiedentlich in öffentlichen Garküchen auf Einzeltischen den Gästen angeboten wurde und bald diesen neuen Institutionen den Namen gab. Und tatsächlich war das Geheimnis der vielen köstlichen gebundenen und klaren Suppen, der Unzahl von Saucen, Aspiks, Gelées und Fleischzubereitungen eine Suppenbrühe, die in einem großen Topf brodelte. Dies war der Ursprung aller Gastronomie-Geheimnisse des XIX. Jahrhunderts. Der Fonds war die Basis der "Grande Cuisine" von Carême bis Escoffier, der Grundstoff aller Raffinements. Entweder eine Morchel, ein Krebsschwanz, dünne Trüffelscheibchen, ein Schuss Sherry oder Madeira, eine Prise Safran oder etwas Kerbel: Schon wird aus einem Fonds eine Köstlichkeit.

Nichts lässt sich schneller aufwerten als eine Suppe. Die Ökonomie des Luxus in der Küchenkunst findet ihre Antwort in den Suppen. Suppen sind par excellence Familienessen, Leibspeisen und Nationalgerichte. Sie dienen der ldentitätsfindung von Personen oder Gruppen beim Teilen des gemeinsamen Mahls: die holländische Erwtensoep, der Hotchpotch, die spanische Olla podrida, der argentinische Puchdro, die serbische Bohnensuppe, die italienische Minestrone, der deutsche Pichelsteiner Topf, die belgische Waterzoi sind die heimlichen Lieblingsspeisen. Suppen sind wahre Wunder, wenn es darum geht, sich mit den Essern zu arrangieren: Mit der Zeit werden Suppen immer besser, auch in der Kulturgeschichte nehmen sie ganz den Charakter ihrer Epoche an.

Autor: Dr. Hans Ottomeyer (Historiker)
Staatliche Museen Kassel
Postfach 410 420, 34066 Kassel